Aus: „Rügen: Ein Leben für den Vilm“, ZEIT ONLINE

 

Bis zur Wende durften nur Bonzen auf die Insel an der Südküste Rügens. Ein Glück für die Natur! Zu Besuch im Urwald VON BERNADETTE CONRAD

 

Tot oder lebendig? Die hohle Rotbuche steht am Weg wie ein kleines, rundes Zimmer. Drei, vier Meter hoch ragt ihre abgestorbene Schale auf. Ein großer Ast ist irgendwann so abgebrochen, dass er die Baumruine wie ein Strebepfeiler stützt. Wo er das Erdreich berührt, hat er sich neu verwurzelt und treibt frisches Grün. Ein paar Schritte weiter schmiegt sich ein Stamm an den Boden, als wäre er eine Riesenschlange, die sich parallel zur Uferböschung zum Meer hin windet. Viele schlafende Urwesen liegen so herum, Baum-Dinosaurier, totes Holz, von jungem Blattwerk umklammert. »Das hier ist werdender Urwald«... Wir stehen in einem der ältesten und unberührtesten Wälder Deutschlands auf der kleinen Insel Vilm, zehn Bootsminuten von Rügens Südküste entfernt. 

 

Wer Vilm unwissend betritt, ahnt nichts von der immensen Artenvielfalt des Gebiets, das seit 1936 unter Naturschutz steht. Walddickicht und sandige Küsten erscheinen zunächst unspektakulär.  »Der Vilm« – so der alte Name, der Ulmenhain bedeutet – war im 14. Jahrhundert noch nicht vornehmlich von Rotbuchen, Eichen und Ahorn bewachsen. Viel später erst, im 19. Jahrhundert entdeckten die Maler die Insel. Carl Gustav Carus und Caspar David Friedrichschufen hier herrliche Bilder. 

 

Der Blick von oben auf Vilm: Wie eine dicht mit Wald bewachsene Kaulquappe – zweieinhalb Kilometer lang, 94 Hektar groß – liegt die Insel im Greifswalder Bodden, mit dickem Kopf, schmalem Körper und einer schönen Schwanzflosse. Nur der Kopf, der »große Vilm«, ist auf einem Rundweg begehbar.

 

Er beginnt auf einer Wiese, wo locker verstreut knapp 20 einheitlich hellgelb getünchte, strohgedeckte Häuser mit blauen Fensterläden und großen Veranden stehen: die 1960 erbaute ehemalige Feriensiedlung des DDR-Ministerrats. Ein verbotener Ort, der bei den Bürgern wildeste Fantasien auslöste. Wie luxuriös, wie gigantisch, vielleicht von unterirdischen Gängen durchzogen, musste das Gelände wohl sein, auf dem sich die regierenden Herren eingerichtet hatten? Wie einfach die Unterkünfte der Bonzen wirklich waren, sahen die Rügener erst, als sie Vilm nach der Wende wieder betreten konnten.

 

»1959 ließ Ministerpräsident Otto Grotewohl im Institut nachfragen, was wir von einer Sperrung der Insel hielten«, erzählt Jeschke (77 Jahre alt, Biologe und einer der bekanntesten Naturschützer der DDR). »Aus Sicht von uns Naturschützern konnte der Insel nichts Besseres passieren.« Bedeutete dies doch wieder genug Brutplätze für Gänsesäger und Waldkauz und 70 weitere Brutvogelarten. Ruhe am Strand für Regenpfeifer und Schnepfenvögel. Platz im Wald für die fast 400 Farne und Blütenpflanzen, Moose und Flechten, Lebensraum für Eidechsen und Nattern, Fledermäuse, Seeadler.

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